Da beißt keine Maus einen Faden ab
Nachdruck aus: Heimatkalender
für Neckartal, Odenwald, Bauland und Kraichgau. Heidelberg 2000:
231-234.
Historische Mausefalle.
Eigenbau des Autors nach alten Originalen: Eine "dreischläfrige" Falle, bei der die Maus den Faden abbeißen muss.
Redensarten, bildhafte Wendungen beleben unsere Umgangssprache. Selten
ist und aber bewusst, dass die Gesamtbedeutung einer Redensart
gewöhnlich nicht aus der Bedeutung der Einzelelemente abgeleitet
werden kann. Das noch vor Jahren häufig gehörte Idiom "Er ist
auf Draht" macht das deutlich. Ist der Kerl nur gewieft, geübt,
vielseitig, wendig, findig, pfiffig oder doch gar durchtrieben? Und
weshalb rankt sich die Beurteilung um das Wort Draht? Klar, wir wissen,
was gemeint ist,. Dennoch ist letztendlich die Aussage nur nach
persönlichen, mit der Redensart verbundenen Erfahrungen zu
interpretieren. Es ist möglich, dass dabei ersatzweise sogar an
die englische Wendung up to date gedacht wird.
Viele der heute noch gängigen Redensarten entstanden schon vor
Jahrhunderten und haben nicht selten inzwischen einen anderen Sinn
bekommen. So war ein Beutelschneider ursprünglich der Dieb, der
den Frauen den an einem Riemen oder einer Schnur an der Kleidung
getragenen Geldbeutel abschnitt.
Wer einst etwas auf dem Kerbholz hatte, war womöglich allein dem
Wirt oder dem Kaufmann etwas schuldig. Als man noch nicht anschrieb,
gab es dafür das Kerbholz, ein der Länge nach halbierter
Holzstab. In den zusammengefügten Hölzer wurden jeweils quer
Kerben eingeschnitten. Sie zeigten einen Anspruch, aber manchmal in
gleicher Weise eine vollzogenen Leistung an. Der Gläubiger und der
Schuldner verwahren je eine Hälfte. Beiden konnten die Zahl der
Kerben jederzeit kontrollieren, indem sie die Hälften aneinander
fügten. Bei den Einkerbungen war lediglich festzulegen, um was es
dabei ging, Das konnte Geld, Ware, aber auch eine Leistung sein. So
schnitt vielleicht der Wirt die verabreichten Gläser Bier oder
Branntwein in das mit dem Namen oder Handzeichen des Gastes versehene
Kerbholz. Nach dem Ausgleich der Forderung wurden die Kerben an beiden
Hölzern abgeschnitten. Selbst die Zehntforderungen haben
frühere Herrschaften einmal mit Kerbhölzern überwacht.
Heute hat die Redensart Etwas auf dem Kerbholz haben eine negative
Bedeutung und wird oft mit einer strafbaren Handlung verknüpft.
Redensarten sind nicht mit Sprichwörtern gleichzusetzen. In
Sprichwörtern stecken oft uralte, vom Volk geprägte
Erfahrungssätze. Bei H. J. Christoffel von Grimmelshausen finden
wir in seinem Simplicissimus die alte Form eines bekannten Sprichwortes:
Freund' in der Not
gehen fünf und zwanzig auf ein Lot 1
solls aber ein harter Stand sein
so gehen fünfzig auf ein Quintlein.
Sprichwörter nennen also im Gegensatz zu den Redensarten das Ding
beim Namen, bedürfen kaum einer Erklärung. Es sind aber die
Redewendungen, die wir weit häufiger als die Sprichwörter
verwenden, obwohl ihr ursprünglicher Sinn uns verborgen blieben
kann. Dies trifft für den Satz zu: "Da beißt keine Maus
einen Faden ab". Gemeint ist: da ist nichts zu machen, das ist so, das
ist unabänderlich.
Bekannte einschlägige Standardwerke bieten
dafür zahlreiche Erklärungen an, die das Reich der Fabel und
die heilige Gertrud bemühen, aber nicht wirklich überzeugen. 2
Mir erschloss sich der Sinn dieses Idioms wie eine Offenbarung, als ich
vor langen Jahren im Magazin des Ettlinger Museums eine
merkwürdige Konstruktion erblickte. Es bot sich einfach an, das
Ding aus Holz, Draht und Spiralfedern selbst nachzubauen. Später
konnte sogar ein altes, gebrauchtes Exemplar gegen einen weiteren
Nachbau eingetauscht werden (heute im Bestand des Pfinzgaumuseums
Durlach).
Der Spruch mit der Maus und dem Faden geht mit Sicherheit auf eine
einmal in ganz Europa bekannte Mausefalle zurück. Bei ihr muss die
Maus einen Faden abbeißen, wenn sie mühelos an den
Köder kommen will. Diese Fallen sind noch heute in den
Balkanländern gebräuchlich. Die Konstruktion ist einfach: In
einen Holzklotz werden Löcher mit einem Durchmesser von etwas 3 cm
gebohrt. Quer zur jeweiligen Bohrung sind Schlitze erforderlich, in die
eine Drahtschlinge passt. Die an einer Spiralfeder befestigte Schlinge
wird in den jeweiligen Schlitz gedrückt und festgehalten. Dann
muss ein zweifach durch die Bohrung und den Holzkern laufender, unten
verknüpfter Faden die gespannte Feder niederhalten. Der
Köder, meist nur Mehl, liegt hinter den Fäden. Die in die
Öffnung eindringende Maus fühlte sich den beiden
Haltefäden behindert und wird deshalb einen davon abbeißen.
Damit kommt aber die Feder schlagartig frei und schnellt die
anhängende Schlinge nach oben. Bei einer starken Feder ist die
Maus augenblicklich tot. Befindet sich in einer solchen Falle kein
Köder, so beißt auch keine Maus einen Faden ab: Nichts Zu
machen! Diese Fallen können übrigens nie durch einen
Stoß, sondern nur durch den Biss der Maus ausgelöst werden.
Ihre ehemals große Verbreitung wird damit verständlich.
Die uns durchweg mündlich überlieferten Redensarten
bereichern und beeinflussen unsere Sprache. Ihre Wurzeln können
weit zurückgehen. Die Schlichtheit der darin ausgesprochenen
Erfahrungen unterscheidet sich von der Lehrhaftigkeit der
Spruchwörter, obwohl es zwischen beiden Verknüpfungen gibt.
Es hat seinen Reiz, über diese oft rätselhaften Redensarten
nachzudenken - und wer auf Draht ist, kommt auch bald auf den Trichter!
Anmerkungen.
1 Lot: alte mittel- und nordeuropäische
Gewichtseinheit, regional unterschiedlich, 15,6 - 17,59 g.
Quäntchen (Quintlein): alte deutsche Gewichtseinheit, regional
unterschiedlich, 3,9 - 4,4 g. [zurück]
2 Vgl. z. B. Müller, Klaus (Hrsg.): Lexikon der
Redensarten. Gütersloh 1994; Röhrich, Lutz: Lexikon der
sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg 1971; siehe allerdings auch
derselbe: Das große Lexikon der sprichwörtlichen
Redensarten. Freiburg 1992. [zurück]
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